Mein Name ist Eugen 2025

Das Zündhölzli schweigt

​Meine Name ist Eugen und ich bin – oder war zumindest einmal – ein ganz gewöhnlicher Berner Bub. Aber heute frage ich mich oft, was aus diesem „gewöhnlich“ eigentlich geworden ist. ​Hätte ich heute gelebt, wären mein Abenteuer wohl schon im Gruppenchat der Klasse 6b zu Ende gewesen. Betragen unbefriedigend hiess das früher. Gibts das noch? 

Wenn ich heute mit Wrigley und Bäschteli losgezogen wäre, hätten wir dann überhaupt noch Streiche gespielt? Oder hätten wir vor allem versucht, so wenig  wie möglich aufzufallen? In der Schweiz scheint man heute sehr darauf bedacht zu sein, dass niemand anstösst. Man trägt ein moralisches Gstältli, das so fein gewoben ist, dass man kaum mehr einen rechten Schnauf tun kann, ohne dass irgendwo ein Glöckchen der Empörung läutet.

Ja, ​Eduard fehlt in dieser Runde. Er wurde ja in der heutigen Geschichte nie unser Freund. Seine Eltern, die Akademiker, hatten ihm den Umgang mit uns untersagt. Vielleicht hatten sie Angst, er könnte bei uns lernen, wie man über die Stränge schlägt oder im Dialekt flucht. Heute frage ich mich, ob Eduard glücklich ist in seiner Welt aus weissen Hemden und richtigen Gesinnungen. Er schreibt jetzt die Regeln, die uns erklären, wie wir zu fühlen und zu denken haben. Aber hat er eigentlich jemals im Schlamm gespielt?

​Wrigley hingegen, dieser gute, alte Tschumpel, hat den Druck nicht ausgehalten. Er sitzt jetzt in seiner Mansarde und starrt auf den Bildschirm. Er denkt an Dynamit, genau wie im Lied vom Mani Matter. Er träumt, so zu sein wie Andrew Tate. Ein richtiger Muni eben. Aber er ist ein grollender Muni. Es ist einer, dem man so lange gesagt hat, seine Kraft sei ein Fehler, seine Hörner ein Privileg und seine Ansichten von gestern, bis er anfing, sie alle als Waffe zu nutzen. Warum eigentlich müssen die Wrigleys dieser Welt erst laut werden, damit man merkt, dass sie eigentlich nur einsam sind?

Ja, und der Bäschteli,  der trägt kein Gstältli, der wurde Lifestyle-Opportunist. Wenn es passt, nutzt er die von Eduard vorgeschriebenen Worte, aber er meint sie nicht ernst. Der Wrigley hat ja eigentlich recht, aber er ist ihm halt doch dann zu “krass”. Er liked zwar meine Posts, aber er würde nie einen Kommentar abgeben, dann müsste er sich ja zu einer Meinung bekennen. Ist er der gescheiteste von uns vieren, der es vermeidet, irgendwo anzuecken?

​Ich aber, der Eugen, ich habe einen anderen Weg gewählt. Ich bin lautlos geworden. Still. 

​Wenn man mir erklärte, dass meine Art zu sein im Grunde ein historisches Versehen ist, habe ich genickt. Ich wurde der perfekte „Nice Guy“. Ich habe gegendert, ich habe mich reflektiert, ich habe geschwiegen. Aber ich frage mich: Ist eine Gesellschaft eigentlich gesünder, wenn ihre jungen Männer nur noch aus Höflichkeit bestehen? Wenn jeder kecke Spruch gegen ein Meitli nicht mehr zu einem Gingg ans Schienbein führt, sondern zu einer psychologischen Abhandlung und womöglich zum Ausschluss führt? 

​Ich stehe oft am Bahnhof, trage meine Kopfhörer und schaue den Leuten zu. Ich bin innerlich emigriert. Wir sind viele, die so still geworden sind. Wir funktionieren wie Schweizer Uhrwerke, präzise und pünktlich, aber man hört unseren Herzschlag kaum noch. Wir warten nicht auf den grossen Knall. Wir warten eigentlich nur darauf, dass die Welt merkt, dass man mit Scham allein keinen Käse produziert und keine Brücken baut. Und schon gar keinen Staat führt.

​Wird es dann besser sein? Ich weiss es nicht. Aber ich stelle mir vor, wie wir Wortlosen dann aus unseren Mansarden kommen. Ohne Dynamit und ohne grosse Reden. Wir setzen uns einfach wieder in den Dreck, dorthin, wo die Erde echt ist. Wir vergessen den ganzen Gugus und zünden ein Zündhölzli an. Nicht um zu zündeln, sondern um Hansjakobli und Babettli zu spielen. Einfach so. Weil wir es können. Und Frau Meyer topplen kann soviel sie will.

​Vielleicht ist das die eigentliche Frage: Können wir wieder lernen, ganz gewöhnliche Buben zu sein, ohne dass uns jemand dabei zuschaut und die Moralnoten verteilt?

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