Dr Godi Kehrli – Werner Jundt (Berner Trouvères)

​Florante war eine zierliche Filipina von 42 Kilo Körpergewicht, aber 80 Dezibel Lebenseinstellung. Sie war in der Schweiz, um ihre Cousine in Niederscherli zu besuchen, die dort im Spital als Pflegerin arbeitete. 

​​Als sie am Berner Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, traf sie der Schock der fehlenden Dringlichkeit. Bern war nicht einfach nur leise, Bern war behutsam. Sogar der Strassemmusiker beim Caran d’Ache Schaufenster flüsterte, als wäre es verboten, laut zu singen. Die Menschen schlenderten nicht, nein, sie flossen in Zeitlupe. Sie umspülten die Hindernisse auf den Perrons wie die Aare die Gestade der Matte. 

Die Geräusche waren nicht lautlos, sie waren entschärft, als würde ein unsichtbarer Filter jede scharfe Kante aus dem Klangbild nehmen. Sie suchte nach dem Lärm des Lebens. Dem Lärm einer Busstation in Manila. Dem Eierverkäufer, der nächsten Karaokebude, schreiende Frauen, die sich übers Wetter unterhalten, als wäre ein Bürgerkrieg ausgebrochen. In Bern? Nichts. Nur die kalte, gesiebte Akustik von funktionierender Logistik, eingebettet in einer tiefen, fast schon unhöflichen Gelassenheit der Menschen.

​​Sie musste die S6 nach Niederscherli um 14:36 Uhr erreichen. Ihre Cousine sagte noch, sei dann ja pünktlich. Die notwendige Pünktlichkeit schwebte über ihr wie ein undeutliches, ungeschriebenes Gesetz:  Das wird schon klappen und Schweizer sind eh langsam Sogar im hektischen Manila wartet der Bus ja auf Menschen, die noch angerennt kommen. 

14:36:00 Uhr ziischschsch-tugg.  Die Türen waren zu. Florante stand davor.

​Ein älterer Berner, der aussah wie ein Carabao, schüttelte beileidig den Kopf, sagte aber in tiefster Ruhe: “Päch, gäu? Aber da isch nümm  z’mache. Dä fahrt hütt ohni di. “

​Florante dachte: Kein Problem, der nächste kommt. Sie stieg in den nächsten Zug, der auch nach Niederscherli fuhr, 30 Minuten später.

​​Sie lehnte sich zurück. Doch als der Zug mit unverminderter Geschwindigkeit an der ländlichen Haltestelle Niederscherli vorbeischoss, sah Florante nur eine traurige Bank und ein Schild im Vorbeiflug. Und sie meinte das Gesicht ihrer Cousine gesehen zu haben, die sie am Bahnhof abholen wollte. 

​”Halt!” rief Florante.

​Der Kondukteur sah sie an. “Dä haltet hütt nid ds Niederscherli, liebi Frou. Wäg dr Boustell müesse mir Zyt iispare, drum haltet hütt nid jede Zug in Niederscherli.” 

​Florante erstarrte. Sie war in den richtigen Zug gestiegen, der aber durch eine stille Systemänderung zum falschen wurde. Die Ironie der Geschichte hatte sie eingeholt, wie damals Godi Kehrli selbst.

​Der Zug raste weiter ins Grüne. Florante blickte auf die Landschaft. Sie war es gewohnt, dass ein Jeepney auf Zuruf anhielt, selbst wenn alle zwanzig Meter jemand aus- oder einsteigen wollte. Hier hielt der Zug nicht einmal, wenn man ihn teuer bezahlt hatte. Was sie beruhigte, war die Erkenntnis: In Manila, selbst wenn der Zug pünktlich losgefahren wäre, hätte er irgendwo auf der Strecke einen halben Tag gewartet. Sie hatte zwar die Kontrolle über die Zeit verloren, aber zumindest kam sie an. Der Zug fährt, also ist es in Ordnung. Bahala Na! Es wird schon gut gehen. 

​Gestrandet in Schwarzenburg, der Endstation, fragte Florante die Kioskfrau, ob es überhaupt einen Zug gäbe, der garantiert heute in Niederscherli hält.

​Die Kioskfrau, eine Frau mit der Stimme eines Bauern, der seit 50 Jahren das Wetter nicht mehr beachtet, sah sie an, als hätte sie nach dem Schlüssel zum Bundeshaus gefragt. “Normal scho, aber hütt isch e Usnahm. Wäge dr Boustell.”

​Florante fragte: “Gibt es keinen anderen Zug der garantiert hält?”

​Die Frau zuckte mit den Achseln: “Da gitts nume ei Zug.”

Florante sichtlich verunsichert: “Kann man dann zu Fuss gehen?” 

“Das würdi euch nid aarate, es chunnt gli cho rägne u dir sit chli lützu aagleit.” 

“Wenn Sie jetzt, heute, nach Niederscherli müssten, wie würden Sie gehen?” 

“Ig würd nicht ‘gehen’, ig würd ds Poschtouto näh.”

Die Kioskfrau deutete beiläufig aus dem Fenster auf einen abfahrenden Bus: “Aber lueg, das isch jetz wäg. Das hesch du jetz verpasst. Das chunnt hüt nümme.”

​Florante sah den gelben Bus langsam um die runde Ecke rasen. Berner helfen sehr gerne, aber es dauert immer etwas länger. Das wusste schon Ernst Mischler, der Schwarzenburger, als er dem Deutschen Klaus Steuer den schnellsten Weg nach Worb erklären musste. 

​Am nächsten Tag stand Florante im Migros in Niederscherli. Zehn Rappen fehlten. Sie versuchte, die Kassiererin mit dem vollen, indirekten Charme zu umgarnen. Ihre Cousine würde im Spital gleich um die Ecke arbeiten. Sie brauche nur 5 Minuten. Sie würde ja die Einkäufe auch da lassen, als Depot. 

​Die junge Berner Kassiererin strahlte eine ruhige, fast schlaftrunkene Überlegenheit aus als sie mit erbarmungsloser Stimme Florante unterbrach:

“Weisch, mir hei hie kei Platz zum so Täsche ufzbewahre . Da muesch grad zahle. Ig cha mirs nid erloube, z’wenig ir Kasse z’ha. Hesch ke Kreditcharte? Suech se doch. Aber muesch jetz nid pressiere, weisch mir hei ja Zyt.”

​Florante verstand: Die Bernerin schenkte ihr die Zeit, um sie schlussendlich mit der unerbittlichen Logik zu erlegen. 

​Sie sagte am Flughafen zu ihrer Sitznachbarin : “Ich habe die Schweiz überlebt. Aber wenn der nächste Zug der falsche ist, und die Zeit nur dazu dient, die Ordnung zu bestätigen, dann ist das Leben eine gut organisierte Falle. Die Freiheit endet um 14:36 Uhr und bei 10 Rappen.”

​Der Flieger hatte drei Stunden Verspätung. Florante lehnte sich zurück, schloss die Augen und sagte zufrieden: “Mabuhay ang Chaos! Hallo Chaos! Ich bin gerettet.

Ist unsere Pünktlichkeit wirklich der Schlüssel zum Glück? 

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