​Das Donnern des Archipels – Eine Lektion am Meer

Die Frage brannte mir im Kopf. Ich wollte zum Tigulang, meinem alten Coach hier, wenn es um die Kultur der Philippinen geht.

​Ich wollte ihn fragen, woher dieser Widerspruch kommt: Harmonie ist doch ein wichtiges Gebot in den Philippinen – und doch toben ihre digitalen Diskussionen brutal, mit blanker Härte wird auf alles eingedroschen, was nicht gleicher Meinung ist. 

​Der Tigulang sass still. Nur seine Hände bewegten sich, die Augen auf das Flickwerk gesenkt. Die Abendsonne tauchte die Meerenge zwischen Cebu und Negros in flirrendes, zuckriges Licht. Seine Hände waren so alt und zäh wie die Wurzeln einer Mangrove.

​Ich hatte erwartet, dass er lacht, mir widerspricht – oder mich fragt, was ich eigentlich vom Land verstehe. Stattdessen nahm er den Haken, mit dem er arbeitete, und stach damit in den Sand, direkt vor meine Füsse. Dann schob er den Sand in einer geraden Linie weg und legte eine abgebrochene, nasse, weiss-rosa Koralle frei.

​«Kuya, du fragst, wie man diese tief gespaltenen Herzen wieder zusammenbringt? Das könnte einfach sein. Du musst nur sehen, wo du gerade stehst. Sieh diese Koralle an.»

​Er lächelte, dieses tiefe, runzlige Lächeln, das keine Eile kannte. Er sprach nicht laut. Er flüsterte fast, so wie die Wellen, die den Sand leckten.

​«Das ist die Wunde, Kuya. Harmonie (Pakikisama) ist ein Gebot, ja – aber sie ist vergiftet, wenn sie nur über die Haut geht und nicht im Herzen verankert ist. Sie lehrt uns, ein Problem zu verstecken, aber nicht zu begraben.

​Hiya, die Angst vor der Schande, verbietet den Rückzug – selbst im Unrecht. Und das Netz der digitalen Welt gibt uns die Distanz, die Härte zu zeigen, die wir von Angesicht zu Angesicht nie wagen würden. Sie schreien, wo sie sonst schweigen. 

​Hiya und Pakikisama funktionieren in der kleinen Familie. Für unser grosses, zersplittertes Land sind sie jedoch Gift. Sie erlauben dir, den Fremden zu verfluchen, weil er nicht dazugehört. Du brauchst ein Fundament, das stärker ist als die Angst vor Schande.»

​Er blickte aufs Meer. «Bevor die Spanier kamen, wurde das Haus noch mit Schulterkraft versetzt. Bayanihan, die Gemeinschaftshilfe sowie Kapwa, die Essenz der tiefen Verbundenheit, waren die stillen Regeln. Dieses Fundament war stärker. 

​Ihr kennt nur eine Form von “Wir”. Filipinos hingegen kennen zwei. Wir  waren Tayo – das inklusive Wir, das dich einschliesst. Heute sind wir Kami – das Wir, das dich ausschliesst.

​Die Kolonialisierung brachte das Geld und die Macht der Clans, sie lehrten uns: Die eigene Sippe ist wichtiger als der Nachbar. Heute ist das Kapwa-Ideal vom Egoismus erstickt. Wir Kann es so noch eine Einheit geben?»

​Er deutete mit dem Kopf in die Ferne. Es war, als spreche er nicht mehr über sein Land, sondern über die ganze Welt. 

​«Stell dir unser Land nicht als Land vor. Vergiss die Karten. Stell dir alles als Wasser vor, als Meer. Und schau dorthin, auf die Vulkane.»

​Der rechte Vulkan ruhte schwer, schwarz. Er hielt seine Lava zurück, als wäre sie Stolz.

​«Das ist der Stein der Verschlossenheit (Bato ng Paghihiwalay). Er schreit: Wir sind nur unser eigener Barangay, versteckt hinter einer Mauer aus Lava. Das sind die, die alles behalten und uns sagen: du bist ein Fremder. Die Tür ist zu. Du gehörst nicht zu uns. Sie sprechen von Banwa, Heimat, aber sie meinen nur die Mauer, di ba? Dieser Berg verspricht Sicherheit, doch er erstickt uns. Wir werden am Ende verhungern, weil kein Handel mehr möglich ist.»

​Er knotete eine Faser. «Der andere, der linke, ist der Stein der Teilung (Bato ng Pagtukoy). Der teilt uns in unzählige, kleine Purok, kleine Gruppen.

​Sie sagen dir: Du bist nur deine Wunde, deine Sorte Mensch, dein Dialekt. Du bist schuld oder du bist Opfer. Die Sprache wird zum Messer, das dich isoliert. Sie sprechen von Gerechtigkeit – aber am Ende sitzt du allein in deinem Purok und verstehst die anderen nicht mehr. Das ist der Vulkan, der uns in der Isolation erfrieren lässt. Meine Güte!»

​Der Tigulang schob das Netz zur Seite und blickte mich direkt an.

​«Der Weg liegt nicht auf den Vulkangipfeln. Er ist kein Land, er ist die unsichtbare, warme Meeresströmung, die die Idee des Kapwa trägt – der gemeinsamen Würde. 

​Kapwa ist die Essenz des Menschseins. Der Andere ist nicht der Andere, sondern dein geteiltes Ich, damit wird es zur fundamentalen Regel des Zusammenlebens.

​Kapwa ist wie das Wasser, das alle Inseln verbindet. Es ist die stille Erkenntnis: Wir sind alle Wir.»

​Er hob einen kleinen Holzspan auf und warf ihn ins Meer.

​«Wenn ich höre, wie der rechte Vulkan ruft, frage ich mich: Wie soll ich diesem Fremden noch echte, menschliche Sorge (Pakikipagkapwa-Tao) zeigen, wenn ich ihm das Kapwa abspreche?

​Und wenn der linke Vulkan teilt, frage ich: Wie sollen wir dann Gemeinschaftsgeist (Bayanihan) leben, wenn wir uns nur über das definieren, was uns trennt? Sag es mir!»

​Ich hatte keine Antwort. Er holte tief Luft. Er zeigte auf eine kleine Flotte Bangka, die gemächlich über das Meer glitten.

​«Diese Boote sind die Flotte der Vernunft. Sie transportieren den Reis der Einsicht sicher von Insel zu Insel. Sie tun Bayanihan, weil sie wissen: Nur die Wahrheit und die Würde, die für alle gelten, können den Taifun überleben.»

​Er hob die runzlige Hand in die Luft.

​«Der wahre Sternenstaub ist der Monsunwind über dem Archipel. Er kommt nicht nur aus unserem Barangay, er fegt über alle hinweg. Er zwingt uns, das Kapwa im anderen zu sehen – nicht, weil es nett ist, sondern weil es überlebenswichtig ist. Ohne diese Strömung versinkt das geografisch zersplitterte Land im Stammesdenken. Das ist das Traurige.»

​«Erinnere dich», sagte er leise, als er das Netz wieder aufnahm.

​«Die Gleichheit ist eine Lüge, weil wir alle mit verschiedenen Voraussetzungen starten. Aber die Gleichwürdigkeit ist die Wahrheit. Und diese Wahrheit kommt aus der Tiefe des Kapwa.»

​Er liess das Netz sinken und blickte in die aufgewühlte See. Er sprach wie ein Richter ohne Robe:

​”Verschlossenheit fragt nur: Wer ist drinnen, wer draussen?

​Teilung fragt immer: Welche Wunde ist tiefer – und wer ist schuld?

​Kapwa findet das Ich im Anderen.”

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Ich und der Andere 

​Der Tigulang hat mit dem Kapwa-Prinzip das universelle Dilemma jeder Gemeinschaft offengelegt: Die Gesellschaft wird zwischen der Verschlossenheit (Clan, Geld) und der Teilung (Identität, Wunden) zerrieben. Das ist überall Stammesdenken.

​Kants Philosophie forderte den Universalismus als moralische Pflicht. Das Kapwa der Filipinos entspricht Kants Universalismus, hingegen ist es eine existentielle, anthropologische Tatsache – die Essenz des Menschseins. Der Unterschied ist subtil, aber entscheidend: Pflicht versus Essenz. 

​Die Vulkane, die uns trennen, sind in ihrer letzten Konsequenz eine Konsequenz der unbalancierten Priorität des Ich über das Wir.

​Der westliche Individualismus, der historisch gesehen Motor für Innovation und Selbstbestimmung war, hat seine Grenzen in der Übersteigerung zum Egoismus erreicht. Die Überbetonung des isolierten Subjekts (Ich denke, also bin ich) ist der Grund für unsere gesellschaftliche Unwucht. Um die Balance wiederherzustellen, müssen wir das Gewicht des Kapwa-Universalismus in die Waagschale werfen. Die westliche Psychologie setzt mit Maslows Bedürfnispyramide die Selbstverwirklichung – das ultimative Ich – an die Spitze. Viele indigene Kulturen hingegen stellen die Harmonie des Kollektivs als höchsten Wert über das individuelle Endziel.

​Der Ur-Universalismus 

​Diese Logik des abgetrennten Individuums findet in den Philosophien indigener Völker weltweit einen klaren Kontrapunkt. Der Mensch ist nicht zuerst ein Ich, sondern ein Wir. Das eigene Sein findet seine Definition nicht in der Abgrenzung, sondern in der Beziehung zum Gegenüber.

​Diese universelle Weigerung des Egoismus findet sich in den verschiedensten Kulturen: Im afrikanischen Ubuntu (Ich bin, weil wir sind), das Menschlichkeit durch Gemeinschaft definiert; im aninischen Buen Vivir (Gutes Zusammenleben), das die Harmonie von Mensch und Natur als Ziel setzt; im mayanischen In Lak’ech (Ich bin du, so wie du ich bist) als Ausdruck der Einheit; und im Inuit Qaujimajatuqangit (IQ) der Arktis, das die existentielle Notwendigkeit der Gemeinschaftsarbeit hervorhebt. Die Gefahr dieser kollektiven Grundierung liegt in ihrer Instrumentalisierung: Wird das Wir absolut gesetzt, kann dies individuelle Rechte negieren und abweichende Meinungen unterdrücken.

​Es ist die universelle Weigerung dieser Philosophien, im Anderen einen Anderen zu sehen. Es ist das Konzept, in jedem Gesicht ein geteiltes Selbst zu erkennen. Nur so entkommen wir der ewigen Wahl zwischen zwei Übeln: der spaltenden Identitätspolitik und der verhungernden Verschlossenheit.

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​Der Monsun wird zum Föhn 

​Ich bin überzeugt: Die Lehre des Tigulang ist ein Monsunwind für den Gotthard. Oder eben der Föhn. 

​Wir sehen die Schweiz oft als starren Granit, doch die kantonalen Eigenheiten könnten auch als Inseln verstanden werden, die durch ein flüssiges Medium umspült werden. Im helvetischen Raum zeigen sich die Schweizer Varianten des Konflikts, der nicht gelöst, sondern vermieden wird: Die Angst vor Ächtung und Gesichtsverlust (Hiya) und die toxische Oberflächenharmonie des Konsenszwangs (Pakikisama) in der Dorfgemeinschaft und im Verein.

​Der Monsunwind des Kapwa zwingt uns, hinter dem Murren der politischen Ränder und dem Zwang zum Konsens die Gleichwürdigkeit – das Kapwa – im politisch Andersdenkenden zu sehen. Es ist die einzige Brücke: Wir definieren die Schweiz nicht nur über die Summe der Unterschiede, sondern über den Kern der Gleichwürdigkeit, der allen innewohnt.

​Die Harmonie, die wir suchen, erreichen wir durch die weite Sicht auf das Kapwa, die sowohl Verschlossenheit als auch Teilung ablehnt. Das ist der Sternenstaub, den wir vom Archipel importieren könnten.

​Wenn wir denn wollten.

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