Courage

Courage ist nicht die Abwesenheit von Angst und es ist auch nicht die waghalsige Risikobereitschaft. Courage beschreibt vielmahr die Fähigkeit, Risiken zu kalkulieren und dann zu entscheiden, diese Risiken einzugehen. Ich war ein schüchternes, ängstliches und introvertiertes Kind. Ich bekam auf dem Pausenplatz oft Prügel. Ich hatte Angst auf Bäume zu klettern, ja, ich hatte sogar vor einem funkenspeienden Spielzeugpanzer Angst, den ich mit etwa 3 Jahren geschenkt bekam. Ich rührte den nie an. Warum änderte sich das?

Ich konnte den “R” nie aussprechen. Bereits in der ersten Klasse musste ich deswegen zur Sprachheilpädagogin. Genutzt hat es nicht, ich kann den Buchstaben heute noch nicht richtig aussprechen. Aber als Kind wurde ich deswegen gehänselt. Ich schrieb im Beitrag “Expect Te Unexpected“, dass ich ein Rhesuskind war, das nur durch eine Bluttransfusion gerettet werden konnte. Als ich etwa 7 Jahre alt war, wurde meine Mutter von den Zeugen Jehovas bearbeitet (zum Glück ist sie da nie beigetreten). Natürlich wurde sie mit Komplimenten über mich überschwemmt, bis die Damen der Sekte erfuhren, dass ich eine Bluttransfusion hatte. Von da an war ich des Teufels. Das war einerseits ein weiterer Kinnhaken an mein Selbstbewusstsein, aber gleichzeitig der Start meiner Veränderung. Ich war richtig stolz darauf, das zweite Kind in der Schweiz gewesen zu sein, das die Bluttransfusion überlebte. Und diesen Stolz wollte ich mir von ein paar Sektenmitgliedern nicht nehmen lassen. Ich wurde aufmüpfig. Das äusserste sich im Schule schwänzen, in der Beurteilung “Betragen nicht immer befriedigend” oder dem Umstand, bei einer eher linken Clique mitzumachen, die mit den Jugendkrawallen der späten 60er Jahre sympathisierte. Meine Jugendzeit beschrieb ich im Beitrag “From Dusk Till Dawn“.

Meine Freunde waren immer älter als ich und da aufgenommen und respektiert zu werden, gab meinem Selbstbewusstsein enorm Auftrieb. Besonders mein “Götti”, man könnte auch sagen “Beschützer”, spielte da eine wesentliche Rolle. Die sportlichen Erfolge, die Selektion in die Nationalmannschaft der Volleyballer trugen das ihre dazu bei.

Dann kamen die Berufsjahre. Wie ich im Beitrag “4 Seasons” schrieb, wurde ich des öftern ins kalte Wasser geworfen. Es gab Menschen, die hatten Vertrauen in mich. Bespielsweise die Hasler AG, die mir die Ausbildung zu Informatiker ermöglichten oder mein Chef bei der Schweizerischen Volksbank, der mich zum mit Abstand jüngsten Unterabteilungsleiter machte. Als der übrigens pensioniert wurde, kündigte ich. Ich erhielt einen neuen Chef, der Mitglied bei den Zeugen Jehovas war. Meine Abneigung gegen speziell diese Sekte kann ich nicht mehr ablegen. Da war auch noch der Chef bei Digital Equipment Corporation, der mir als Neuling im globalen Verkaug gleich die weltweite Verantwortung für einen der 5 grössten Kunden der Firma übertrug. Ohne das Selbstvertrauen, das ich schlussendlich erwarb, hätte ich diese Aufgaben wohl abgelehnt.

All die Erfolge führten dazu, dass ich nicht nur selbstsicher wurde, sondern bisweilen sogar arrogante Züge zeigte. Man stelle sich vor, dass ich in einem Volleyballsspiel die rote Karte gezeigt bekam, beim Volleyball, wo es ja bekanntlich keinen Körperkontakt gibt. Ausser, man knallt dem Gegner einen Ball mitten ins Gesicht.

Was mir aber fehlte, war der Narzissmus eines Donald Trump oder Elon Musk (nein, ich will mich nicht mit denen vergleichen, aber ich muss ja Beispiele nennen, die ihr kennt). Ich gab in meinen Jahren als Vorgesetzter auch anderen Menschen eine Chance und versuchte, sie zu fördern. Ich umgab mich nicht mit Ja-Sagern, sondern suchte gezielt nach Leuten, die wie ich aufmüpfig waren und nicht dem Chef widerspruchlos gehorchten. Der Dank dafür waren überragende Leistungen und Ergebnisse, die wir als Team erzielen konnten.

Kalkulierte Risiken eingehen ist ein wesentliches Merkmal von Courage, schrieb ich. Das ist auch der Entscheid, meinen Lebensabend hier in den Philippinen zu verbringen, wie im Beitrag “Back To The Roots” beschrieben. Die Idee war nicht etwa spontan, sondern geisterte seit Jahren in meinem Kopf rum. Dadurch wusste ich, auf was ich mich einliess. Ich geniesse aber nicht einfach die Ruhe oder verbringe meine Zeit mit andern Ausländern in einer Bar, sondern probiere viel neues, versuche vieles miteinfachen Mitteln selbst zu machen. Einiges gelingt, anderes nicht. Es ist ein Weg, auch im Alter die Komfortzone ab und zu zu verlassen und daran zu arbeiten, dass das Selbstvertrauen auch im Alter bleibt.

Warum schreibe ich das? Es ist immer wieder die Rede von “Eigenverantwortung”, besonders dann, wenn sich das Thema um “Finanziell schwache Mitbürger” dreht. Oder um Flüchtlinge. Wir alle tendieren dazu, unsere Erfolge uns selbst zuzuschreiben. Dabei ist es meist Glück. Und der richtige “Götti” zur richtigen Zeit. Eigenverantwortung setzt Selbstvertrauen voraus. Wie soll ein mausarm aufgewachsener Mensch Selbstvertrauen erwerben, wenn er nicht gezielt gefördert wird? Wie soll ein traumatisierter Flüchtling Selbstvertrauen gewinnen, wenn ihm niemand eine Chance gibt? Courage etwas zu versuchen, etwas zu tun, setzt voraus, dass die Umstände es überhaupt erlauben. Denkt mal über Euer eigenes Leben nach, wieviel ist tatsächlich euer eigener Verdienst und wieviel ist Glück, oder Privilegien die ihr genossen habt? Mir jedenfalls tat es gut, mal die Beiträge über mein Leben zu schreiben. Es gab mir Gelegenheit, meinen “Göttis” und meinen “Beschützern” oder “Förderern” dankbar zu sein und mich ihrer wieder mal zu erinnern.

Das Foto zeigt eine meiner Zementscheiben mit Tänzerinnen im Rampenlicht. Im Rampenlicht zu stehen, beobachtet, bedingt eine gewisse Courage. Malen war noch nie meine Stärke, überhaupt habe ich wenig Talent als Künstler, in welcher Form auch immer. Die in der Vergangenheit besuchten Tanzkurse gingen an mir vorbei, jedoch ohne Spuren zu hinterlassen. Zeichnen und malen kann ich immer noch nicht, obschon ich mich für die Malerei begeistern kann. Und Musik höre ich gerne, sehr gerne, aber für Saiten oder Tasten fehlt mir das Fingerspitzengefühl. Trotzdem schaffe ich diese Zementscheiben und trotzdem singe ich mit Filipinos ab und zu Karaoke. Aber das “R” kann ich immer noch nicht aussprechen.

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